Ich gehe mit großen Schritten auf den örtlichen Bahnhof zu und nehme an der Mündung der Treppenstufen, die den fließenden Übergang zu den Gleisen der Straßenbahnlinie 66 führen, flüchtig einige Jugendliche wahr, die sich aufgrund ihrer lautstarken Diskussion zu erkennen geben.
Ich sitze nun in der Bahn, mein konzentrierter Blick auf die Anzeigetafel wird durch eine in die S-Bahn stürmende Gruppe Jugendlicher unterbrochen. Diese scheinen ungehemmt ihre Diskussion in der S-Bahn lautstark fortzusetzen und ziehen kritische, teils musternde Blicke auf sich. Im Rahmen der Diskussion fallen Namen. Murat, Samir, und Jens.
Neben mir sitzt eine ältere Dame und beobachtet mit einem schlichtweg grimmigen Blick die Jugendlichen. Sie schaut mich an und zögert zuerst. Dann dreht sie ihren Kopf erneut zu mir und sagt mit verärgertem Ton:
„Wenn es so weiter geht mit Multikulti und der Sozialromanze sowie Zuwanderungslawine, werden wir bald hier kein richtiges Deutsch mehr sprechen. Jetzt fangen schon unsere deutschen Kinder an, unsere schöne Sprache zu verlernen. Kein Wunder, wenn sie mit diesen ausländischen Jugendlichen verkehren.“
Ich war sprachlos.
Ich ließ meine Gedanken schweifen und hinterfragte ihre Aussage. Ich verspürte den sich innerlich aufbäumenden Drang zu intervenieren und das klischeebeladene Denkmuster aufzubrechen. Verkommt die deutsche Sprachkultur? Liegt die Ursache in der zunehmenden Vielfalt unserer Gesellschaft und der Zuwanderung?
Die kontroverse Diskussion über den Verfall der deutschen Sprache ist in aller Munde und scheint allgegenwärtig zu sein, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Ein komplexes Themenfeld, das durchaus viel Freiraum für Interpretationen und sicherlich auch Polemik lässt.
65 Prozent aller Deutschen sind der Meinung, die deutsche Sprache verkomme immer mehr. In der Wahrnehmung der Menschen wird nur noch wenig Wert auf eine gepflegte Ausdrucksweise im Elternhaus, in der Schule und in den Medien gelegt. Vor allem Ältere sorgen sich über diesen Entwicklungsprozess. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS ) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sprachrat.
Eine Aussage, die vor allem zwei Fragen aufwirft: Sind die Sorgen über den Verfall der deutschen Sprache berechtigt und worin liegen die Gründe für diese mögliche Tendenz?
Längst ist es an der Zeit, den Wahrheitsgehalt der Behauptungen weitestgehend zu überprüfen und Vorurteile und stereotype Denkmuster zu durchbrechen. Zunächst ist es wichtig, das Konzept des Sprachverfalls nicht weiter aus der Perspektive eines Laien zu sehen.
Verfällt die deutsche Sprache wirklich?
Bevor man auf Ursachenforschung geht und pauschale Gründe dafür sucht, warum sich die deutsche Sprachkultur sukzessiv abschafft, muss Grundsätzlicheres zu diesem komplexen Thema geklärt sein. Welche Sprache verfällt hier eigentlich angeblich und wie ist dieser Verfall überhaupt definiert?
Damit eine Sprache tatsächlich verkommt, sich also über einen andauernden Zeitraum verschlechtern kann, muss es als Ausgangspunkt eine optimale, fehlerfreie Sprache gegeben haben. Man stellt sich also einen Muttersprachler vor, der die Sprache, in diesem Fall das Deutsche, perfekt beherrscht und sprachlich versiert ist.
Eine klare Illusion, denn jeder produziert fortwährend Normverstöße. Ein Unterschied besteht lediglich darin, in welcher Intensität dies geschieht. Viele Menschen meinen, wenn in der Gegenwart etwas schlecht ist, dann muss es in der Vergangenheit zwangsläufig besser gewesen sein. „Die guten alten Zeiten“, wie man gerne zu sagen pflegt.
Fatal ist es in jedem Fall, bestimmten Gruppen, wie Jugendlichen, Migranten oder – noch schlimmer – herkunftsspezifischen Gruppierungen den Vorwurf zu machen, sie seien für den Niedergang der deutschen Sprache verantwortlich.
Rudolf Hoberg etwa, Sprachwissenschaftler und ehemaliger Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache, geht in diesem Kontext noch einen Schritt weiter. Er hält das Ergebnis der oben genannten Umfrage für eine „gefühlte Wahrnehmung, die von den Tatsachen weit entfernt ist.“ Wahrgenommen werden nur Oberflächenphänomene, also keine tiefer greifenden Veränderungen in der Sprachstruktur.
Sprachen verändern sich unentwegt
In Frage gestellt werden muss ebenso die Behauptung, dass Veränderungen in einer Sprache generell zu Verschlechterungen führen. Geht man dieser Aussage auf den Grund, wird man feststellen, dass Sprachen selbstverständlich veränderlich sind und sich sogar verändern müssen. Schließlich sind sie Hauptverständigungsfaktoren, die sich der fortwährend verändernden Umwelt adaptieren.
Ein Fehler wäre es auch, die gesprochene Sprache auf Schulhöfen oder in Talkshows mit der deutschen Schriftsprache zu vergleichen. Zum Beispiel kann man Werke von Goethe nicht mit Slang-Sprachen unter Jugendlichen oder Nicht-Muttersprachlern vergleichen.
Faktoren, die die Befragten in einer Anschlussumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach unter anderem auf die Frage: „Woran liegt es ihrer Meinung nach, dass die deutsche Sprache verkommt?“ , sind nicht haltbar und schlichtweg falsch. Dass besonders die Älteren der Ansicht sind, die deutsche Sprache verfalle, liegt daran, dass sie den modernen Entwicklungsprozess der Sprache nicht begleiten. Sie meinen, das Richtige gelernt zu haben, was wiederum suggeriert, dass das, was Jüngere lernen, schlechter ist, weil es eben anders ist.
Dass laut Umfrage weniger gelesen und mehr ferngesehen wird, ist auch ein Mythos. Dieses Bild wird von den Medien selber vermittelt und geprägt. Insgesamt wäre es aber durchaus angebracht – wenn man immer noch der Ansicht ist, die deutsche Sprache verliere ihr Niveau – bei sich selbst zu beginnen und nicht andere diesbezüglich anzuprangern. Dabei muss immer im Hinterkopf behalten werden: Jede Sprache ist eine hybride Sprache.
Über 15 Prozent des deutschen Wortschatzes besteht aus Fremdwörtern. Dabei haben Anglizismen, aus dem Englischen entlehnte Worte, einen hohen Anteil. Diverse Begriffe und Bezeichnungen wurden ins Deutsche eingebürgert.
Sprachkritik ist Gesellschaftskritik
Wird von Sprachverfall gesprochen, hängt dies außerdem auch immer ganz eng zusammen mit Kultur- und Gesellschaftskritik. Ein gefährliches Terrain, denn Grenzen können auf diesem Gebiet schnell verschwimmen. Einerseits kann das Bekämpfen von Anglizismen im Deutschen Ausdruck für die Abneigung gegen die alles umfassende Dominanz der USA sein, andererseits kann der platte Vorwurf: „ Ausländer machen unsere Sprache kaputt“, auch schnell in rassistischen Vorwürfen münden.
Schon vor über 100 Jahren denunzierte Gustav Wustmann in seinem Buch „Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Hässlichen“ die Dekadenz der deutschen Sprache:
„Der Deutsche mag so alt werden, wie er will, er wird immer und ewig Affe der anderen Nationen bleiben. Ausländerei, Franzosennachäfferei und Engländernachäfferei sind verbreitet. […] Vor allem sind die Juden an diesem Verfall schuld: Ein großer Teil unseres heutigen Sprachunrats geht ausschließlich auf das Judendeutsch der Berliner und Wiener Tagespresse zurück.“
Eine völlig unangebrachte Folgerung, denn gerade Sprachwissenschaftler stehen dieser Form des Sprachverfalls völlig gelassen gegenüber.
Die gesprochene Sprache unter Jugendlichen, auch „Nähesprache“ genannt, ist bei weitem nicht repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung und somit für die Entwicklung und Zukunft des Deutschen. Diese Unterschiede hat es in der Geschichte immer gegeben. Auch Rudolf Hoberg stellt fest: „Schon seit den alten Ägyptern klagt die Generation der Erwachsenen darüber, dass alles schlechter geworden ist“.
Dieses Phänomen erstreckt sich über alle Zeiten hinweg. Chronologisch betrachtet, hatten schon Platon, Jean-Jacques Rousseau, Helmut Kohl und sogar Prinz Charles, der seine Abneigung gegenüber der Verschmutzung der britischen durch die amerikanische Sprache äußerte, diesen Zustand kritisiert.
Aus diesem Grund sollte auch kritisch hinterfragt werden, ob Sprachveränderungen mit mangelndem Stolz der Muttersprachler ihrer Sprache gegenüber zu tun haben könnten.
Insgesamt wird es von immenser Bedeutung sein, auch innerhalb des Deutschen differenzieren zu können. Man kann hierbei einmal das Niveau als Kriterium nehmen, denn es wird immer Menschen geben, die sprachgewandter sind und über einen breiteren Wortschatz verfügen als andere. Zum anderen ist Sprache aber auch immer mehr kontextabhängig. Jugendliche etwa kommunizieren untereinander sicherlich oft in einer Art Sub-Sprache, die von Akademikern und Eliten als unangemessen empfunden wird.
Sprache ist Kommunikation
Offensichtlich funktioniert diese Kommunikation aber hinreichend und das ist doch letztlich das Ziel einer jeden Sprache. Wichtig wird es für diese jungen Menschen, sich in späteren Phasen ihres Lebens innerhalb des Deutschen zu entwickeln und sich schwerpunktmäßig der offiziellen Hochsprache zumindest anzunähern.
Je mehr ihnen das gelingt, desto größer sind ihre Chancen in Bildung und im Berufsleben. Eine einfache Formel, die außerdem erkennen lässt, dass die deutsche Sprache in ihrem Kern nicht verfällt, sondern weiterhin Maßstab bleibt, um in Deutschland etwas erreichen zu können. Zwischen Migranten und dem sogenannten Sprachverfall im Deutschen jedenfalls einen ursächlichen Zusammenhang zu sehen, wäre eine unlogische und schlicht falsche Betrachtungsweise.
Sprache ist ein seit Jahrhunderten probates Mittel der Kommunikation und Interaktion unter den Menschen, die sich fortlaufend verändert und weiterentwickelt hat. Die Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil der Lebenswelt und impliziert, dass sie das wichtigste Mittel der Verständigung zwischen Menschen darstellt. Nur durch Sprache kann man mit seinen Mitmenschen eine tiefe Beziehung entwickeln, indem man miteinander kommuniziert.
Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, in der mehrere Kulturen zu Hause sind. Wenn wir diesen Reichtum und diese Ressourcen nutzen können, sind völlig neue Erfahrungen möglich. Kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit sind eine Bereicherung und das Fundament einer multikulturellen Brücke. An dieser Stelle sollte auch noch einmal betont werden:
Die guten alten Zeiten waren auch mal die schlechten neuen Zeiten.